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Geschichte „zieht“ in Stettin. Interview mit Pierre-Frédéric Weber über das Podcast-Projekt „Stettinum“

Ewa Dąbrowska (Städtepartner Stettin): Wann und wie ist die Idee für „Stettinum“ eigentlich entstanden? War das ein Projekt, das in der Corona-Zeit geboren wurde?

Pierre-Frédéric Weber: Ja und nein. Die Idee kam eigentlich schon auf, bevor Corona wirklich Thema war. Ich erinnere mich, dass es so gegen Ende 2019, Anfang 2020 war – Corona war da in China schon in den Medien, aber noch keine globale Bedrohung. Die eigentliche Idee kam von Martin Hanf, einem Freund und Kollegen, der schon seit dem Jahr 2000 in Stettin lebt. Ich selbst bin seit Herbst 2007 hier. Wir hatten uns schon früher gekannt, unter anderem durch gemeinsame Auftritte in einem Ausländerprogramm von Radio Stettin und bei einem Europaprojekt.

Martin kam eines Tages auf mich zu und sagte: „Weißt du was, Pierre? Wir beide leben schon lange hier – du als Franzose, ich als Deutscher. Wir haben eine besondere Perspektive auf Stettin.“ Und er hatte recht. Wir sind Zugewanderte, keine Einheimischen. Wir sehen manche Dinge vielleicht anders – nicht unbedingt besser, aber eben anders. Und da Stettin so interessant gelegen ist, als europäische Grenzstadt, kam der Gedanke auf, dass wir gemeinsam ein Podcast-Projekt starten könnten. Kurzformate, etwa 20 Minuten lang, über Themen wie Geschichte, Gesellschaft, deutsch-polnische Beziehungen, Kultur und Alltag.

Martin Hanf und Pierre-Frédéric Weber vom „Stettinum“ (Photos: privat)

ED: Und wie wurde daraus dann das Projekt, wie es heute existiert?

PFW: Zunächst war der Plan: alle zwei oder drei Wochen setzen wir uns zusammen, unterhalten uns zu einem Thema und nehmen das auf. Dann dachten wir: Wenn wir das schon machen, dann sollte das auch zugänglich sein – also haben wir eine Homepage auf WordPress erstellt und ein Facebook-Profil angelegt. Martin hatte bereits Erfahrung im Radiobereich, unter anderem bei Radio Stettin. Er kennt sich mit Ton, Schnitt, Technik aus – das kam uns natürlich sehr zugute.

Den Namen „Stettinum“ haben wir dann gemeinsam gefunden. Er klingt weder deutsch noch polnisch – irgendwo dazwischen. Ein Konsenswort. Er steht sinnbildlich dafür, dass es in diesem Projekt um eine europäische Perspektive auf die Stadt geht.

ED: Ursprünglich war es als deutschsprachiger Podcast gedacht – heute ist es deutlich mehrsprachig. Wie kam es dazu?

PFW: Die erste Idee war tatsächlich, es auf Deutsch zu machen. Es gibt ja in und um Stettin viele Menschen, die Deutsch verstehen – auch auf polnischer Seite. Es war uns aber auch klar, dass wir mit unserer Mehrsprachigkeit arbeiten wollen. Wir sprechen beide recht gut Polnisch, auch wenn wir natürlich Fehler machen. Also kam mit der Zeit auch Polnisch dazu, sogar einmal Französisch im Titel. Es ist einfach so gewachsen. Das Projekt ist ein bisschen transnational geworden – nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich.

ED: An wen richtet sich euer Podcast eigentlich? Gibt es wirklich so viele Menschen, die sich für Stettin interessieren – auf beiden Seiten der Grenze?

PFW: Über die Jahre haben wir dazu ein besseres Gefühl bekommen. Auf Facebook haben wir aktuell rund 600 bis 700 Follower. Nicht gigantisch, aber für ein reines Freizeitprojekt sehr respektabel. Wenn man sich die Statistiken anschaut, kommen viele Klicks aus Deutschland, Polen, manchmal sogar von weiter weg. Und auffällig ist: Unter den Kommentaren sind viele polnisch klingende Namen – Leute, die auf Deutsch zuhören und offenbar verstehen, worum es geht. Die erste Folge haben wir übrigens Mitte Februar 2020 veröffentlicht – also zwei, drei Wochen vor dem ersten Lockdown.

ED: Wie hat sich das Format im Lauf der Zeit verändert?

PFW: Anfangs war es ein Gespräch zwischen Martin und mir, so alle zwei Wochen. Das hat gut funktioniert, aber irgendwann wurde die Zeit knapper – wir machen das ja komplett in unserer Freizeit. Nach etwa anderthalb bis zwei Jahren haben wir das Konzept verändert: weniger häufig, dafür etwas längere Folgen mit Gästen. Mal auf Deutsch, mal auf Polnisch – je nachdem, was dem Gast lieber ist.

Die Themen sind geblieben: Stettin, die Region, deutsch-polnische Fragen, europäische Perspektiven. Nur die Herangehensweise hat sich verändert. Wir bereiten uns zwar vor, aber die Gespräche sind sehr frei. Keine festen Fragenlisten, wir lassen es sich entwickeln.

ED: Ihr lebt beide schon länger in Stettin. Was hat sich in dieser Zeit verändert? Gibt es etwas, das du vermisst?

PFW: Für mich persönlich ist das schwer zu sagen, weil ich die 90er-Jahre hier nicht erlebt habe. Mein erster Besuch war 2005, mein Umzug 2007. Aber allein seitdem hat sich wahnsinnig viel getan – städtebaulich, infrastrukturell, gesellschaftlich. Stettin ist in vieler Hinsicht nicht wiederzuerkennen. Ich habe nie das Gefühl gehabt, etwas aus den frühen Zeiten zu vermissen. Klar, man hört von diesem „wilden Westen“-Flair der Nachwendjahre – Schmuggel, Hafenstadt, alles etwas rauer. Aber das kenne ich nur aus Erzählungen.

ED: Wie hat sich deiner Meinung nach der Umgang Stettins mit seiner deutschen Geschichte verändert?

PFW: Da hat sich sehr viel getan. Heute wird das deutsche Erbe nicht mehr als Bedrohung oder Feindbild wahrgenommen, sondern als Teil der eigenen Geschichte. Es wird anerkannt, integriert, manchmal auch liebevoll gepflegt. Es gibt Initiativen, die sich um alte deutsche Friedhöfe kümmern, um vergessene Denkmäler, um Grabsteine mit interessanten Biografien. Und das machen polnische Stettiner – nicht etwa Nachfahren der Vertriebenen. Das wäre vor 30 Jahren noch undenkbar gewesen.

Auch in unserem Podcast sprechen wir offen über die deutsche Geschichte der Stadt – und wir haben noch nie negative Reaktionen bekommen. Keine Kommentare wie „Was wollen diese Ausländer über unser Stettin sagen?“ – im Gegenteil. Das Interesse ist groß, das Klima offen.

ED: Würdest du sagen, die Stettiner interessieren sich stärker für Geschichte als Menschen in anderen Städten?

PFW: Das ist schwer zu quantifizieren. Aber mein Eindruck ist: Geschichte zieht hier. Es gibt viele Veranstaltungen, Lesungen, Diskussionen, Ausstellungen. Und als Historiker arbeite ich auch viel mit dem Schloss der Pommerschen Herzöge, mit Museen, mit der Uni. Wir haben ein Publikum, definitiv.

Ob das in Breslau oder Danzig ähnlich ist, weiß ich nicht genau. In Stettin gibt es aber auch diesen besonderen Drang zur Selbstvergewisserung – vielleicht, weil die Stadt lange als „provinziell“ wahrgenommen wurde. Das Geschichtsbewusstsein hat auch etwas mit Identitätsbildung zu tun.

ED: Was sind eure Pläne für die Zukunft von Stettinum?

PFW: Das Gute ist: Wir setzen uns nicht unter Druck. Wir machen das, weil wir Lust haben. Es gibt viele spannende Menschen in der Region, die wir noch einladen könnten. Das Potenzial ist lange nicht ausgeschöpft. Klar, wir wollen es weiterentwickeln – vielleicht etwas frischer, etwas jünger. Auch sprachlich wollen wir flexibel bleiben. Unsere jüngste Folge war auf Polnisch, mit einem Fotografen aus Stettin (Pawel Kula – ED). Vielleicht wird die nächste wieder auf Deutsch sein – wir entscheiden das jeweils spontan.

Wir sehen uns als Ergänzung, nicht als Ersatz für professionelle Medien. Und gerade in einer Zeit, in der viele lokale Medien den Fokus auf grenzüberschreitende Themen verloren haben, wollten wir einfach etwas beitragen – auf unsere Art, im Dialog, mit Respekt und Neugier.