Wie wurde Stettin zu Szczecin? Was hat der historische Bruch 1945 für die Menschen in der Stadt bedeutet? Wie steht es heute um das Regionalbewusstsein? Darüber haben die Städtepartner Stettin mit Dr. habil. Jan Musekamp gesprochen. Er ist Historiker für ostmitteleuropäische Kultur- und Migrationsgeschichte und Vizedirektor des Deutschen Historischen Instituts in Warschau. In seiner Promotion „Zwischen Stettin und Szczecin: Metamorphosen einer Stadt von 1945 bis 2005” (Wiesbaden: Harrassowitz 2010) hat Jan Musekamp diese Fragen untersucht.
Jetzt ein großer Sprung in die Zeit nach der Wende. Was ist denn da passiert? Hat sich in den 90er und 2000er Jahre der Umgang der jungen Generation, also der dritten und vierten Generation, mit dem deutschen Erbe verändert? Und welche Rolle hat dies für das Regionalbewusstsein in der Stadt gespielt?
Sowohl die deutsche als auch die preußische Vergangenheit spielten eine Rolle. Über Preußen wurde eigentlich immer nur negativ gesprochen. Teilweise wurden Gebäude auch als preußisch bezeichnet, um sie abreißen zu können. Aber Mitte der 80er wurde schon damit angefangen, Gebäude unter Denkmalschutz zu stellen. Das war ein Vorbote auf das, was dann nach 1989 passiert. Für diese Generation, die nach 1989 aktiv wird, ist das alles immer noch ein bisschen fremd, auch weil man unter dem Einfluss der Propaganda stand. Das Schloss war ganz wichtig, die pommerschen Herzöge auch. Und das ist ja auch wichtig. Dieser Teil der Geschichte wurde in deutscher Zeit überhaupt nicht behandelt.
An der Wende zum neuen Jahrtausend ändert sich dann, dass die Generation, die den Kommunismus nur mehr als Kinder erlebt hat, in einer Zeit groß wurde, in der der Staat das Regionalbewusstsein förderte. Die Stadt hat jetzt die Mittel, Steuereinnahmen zu generieren, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, und Bürgerengagement wird belohnt. Das führt dazu, dass über Parteien hinweg als Eigenes betrachtet wird, was man in Stettin vorfindet. Es besteht Konsens darüber, dass Stettin die Stadt ist, in der man lebt und in der man die Lebensqualität erhöhen möchte. Ob es dann um ein Gebäude aus deutscher, schwedischer oder pommerscher Zeit geht, spielt kaum mehr eine Rolle. Es ist einfach unsere Stadt.
All dies manifestiert sich Anfang der 90er Jahre politisch mit der Selbstverwaltungsreform. Es zahlt sich aus, für die Stadt zu arbeiten. Die Selbstverwaltung auf kommunaler und regionaler Ebene ist jetzt viel stärker. Zudem gibt es später die Woiwodschaft Westpommern mit dem starken Zentrum Stettin. Das kreiert auch ein Zugehörigkeitsgefühl und ein Regionalbewusstsein.
Es spielt jetzt keine große Rolle mehr, dass das Kulturerbe deutsch ist. In den 90er Jahren gab es eine Goldgräberstimmung, da war alles Deutsche toll. Da gab es den Ausdruck „poniemieckie“: das war alles solide, das ist noch aus deutscher Zeit, hält ewig, der Topf im Küchenschrank hält immer noch, der Schrank steht immer noch. Aber in den 2000er Jahre spielt das wieder eine geringere Rolle. Es kommt dann der Enthusiasmus für den EU-Beitritt und man sieht sich eher als europäische Stadt. Colleoni ist dafür ein gutes Beispiel. Weniger das Deutsche oder Preußische wird hier betont, sondern die Einordnung, bewusst oder unbewusst, in europäische Bezüge, als Teil des zusammenwachsenden Europas.
Wie sich das weiterentwickelt, kann ich nicht sagen, weil meine Untersuchung dann zu Ende war. Aber ich habe es noch verfolgt, als Stettin Kulturhauptstadt Europas werden wollte. Das war die einzige Bewerbung, bei der von unten aus der Gesellschaft heraus Kulturschaffende und Leute aus der Universität sich dafür eingesetzt haben und unglaublich viel bürgerschaftliches Engagement zum Tragen gekommen ist. Am Ende hat es nicht geklappt. Aber man konnte sehen, dass es ein ganz starkes Zusammengehörigkeitsgefühl gab, ein Bewusstsein, Stettiner zu sein. Und als Stettiner ist man dann vielleicht polnischer Stettiner, aber man könnte genauso gut deutscher Stettiner sein.
Werfen wir noch einen Blick auf die Kontakte zwischen den vertriebenen deutschen Stettinern bzw. ihren Kindern und den polnischen Bewohnern der Stadt in den letzten Jahren. Wie hat sich denn das Verhältnis zwischen diesen beiden Gruppen entwickelt?
Diese Frage kann ich nur anekdotisch beantworten. Ich kenne das hauptsächlich aus Masuren, wo ich mehr Zeit privat verbracht habe. Das ist ein entspanntes Verhältnis. Das geht schon so weit, dass man sich auf polnischer Seite, in Stettin oder auch in Masuren fast ein bisschen über das Desinteresse der Enkelgeneration der Vertriebenen ärgert. Aber wenn man dann nachhakt, dann wissen fast alle darüber Bescheid, das ist ein interessanter Teil der Familiengeschichte.
Für den Holocaust gibt es Untersuchungen, wie Traumata bis in die Enkelgeneration nachwirken – und teilweise bis in die Urenkelgeneration. Ich habe den Eindruck, dass dieses Trauma der Vertreibung genauso nachwirkt. Das ist ein nicht vergleichbares Trauma, aber es ist trotzdem ein Trauma. Ein Trauma, dass man die Heimat verloren hat. In West- und Ostdeutschland wurde es durch das Wirtschaftswachstum materiell abgefedert. Aber diese Verlustgeschichte, auch wenn es keinen nennenswerten Revanchismus gibt, wirkt nach. Wenn man aus einem Gebiet kommt, aus dem die Familie zwangsweise vertrieben wurde, dann ist das immer noch in den Familiengeschichten. Dann gibt es auch immer noch Interesse für die Region, auch wenn dies nachgelassen hat. Der Heimwehtourismus existiert fast nicht mehr. Vielmehr verbindet man das jetzt mit Urlaub.
Wie gesagt, es ist ein absolut entspanntes Verhältnis. Bei größeren Projekten sieht man das. In Masuren gibt es den Palast in Sztynort. Dort wohnte die Familie von Lehndorff. Heinrich Graf von Lehndorff war am Attentat auf Hitler am 20. Juli beteiligt. Es gab einen Kampf darum, dass dieses Gebäude saniert wird, an dem auch die Nachfahren von Lehndorff beteiligt waren. Allerdings nicht ein Kampf im Sinne, dass sie das Schloss zurückwollten. Vielmehr ging es ihnen darum, dass sie dort ihre Wurzeln hatten, genauso wie die heutigen Bewohner ihre Wurzeln dort haben, und sie einen Beitrag zur Sanierung leisten wollten. Da kann auch keine polnische Regierung mehr etwas daran ändern, dass auf diesem persönlichen Niveau eine völlige Normalisierung eingesetzt hat.
Zum Abschluss noch einmal zurück zum Reiterstandbild des Feldherren Colleoni aus der italienischen Renaissance. Im Jahr 2002 kam es aus Warschau zurück in die Stadt. Das Standbild wurde von dem deutschen Gründer des Stettiner Stadtmuseums Dohrn 1913 erworben, nach dem 2. Weltkrieg von der polnischen Regierung nach Warschau abtransportiert und kam durch den Einsatz der Stettiner Bürger wieder zurück in die Stadt. Gehört diesen verschiedenen Sichtweisen auf die Vergangenheit der Stadt – deutsche, polnische und europäische Geschichte in Verbindung mit lokalem Engagement der Bürger – vielleicht auch die Zukunft Stettins?
Das ist schon eine allgemeine Entwicklung. Ein gutes anderes Beispiel neben Colleoni ist vielleicht der Einsatz für eine Statue, die es nicht mehr gibt: Sedina. Sedina war eine Personifizierung Stettins aus der wilhelminischen Zeit auf dem großen Brunnen vor dem Roten Rathaus. Zuerst hat man die Statue gesucht. Dann hat man vermutet, sie sei eingeschmolzen worden. Dann hat man gedacht, sie wurde vergraben. Schließlich hat der Stettiner Historiker Jan Piskorski danach gefragt, was diese Statue denn eigentlich symbolisiert, und darauf hingewiesen, dass sie für den wilhelminischen Imperialismus steht und den Drang, eine Weltmacht auf den Meeren zu werden. Für die Stettiner, die sich für die Statue eingesetzt hatten, hatte das aber eine ganz andere Bedeutung. Es war die Personifizierung der Stadt in dieser mythischen Figur. Ich habe es jetzt nicht genau weiterverfolgt. Aber ich denke, diese Diskussion ist nicht weitergeführt worden – und wahrscheinlich, weil das europäische Element fehlte.
Trotz Kritik an Europa: Europa ist immer noch ein ganz wichtiger (Bezugs)punkt. Die Einordnung in das europäische Kulturerbe und die europäische Tradition (spielt eine Rolle). Das hat bei Colleoni hervorragend geklappt, und das funktioniert auch bei vielen Museumsbeständen. Das funktioniert bei Gebäuden, die in verschiedenen Stilen errichtet sind. Das wird auch weiterhin eine wichtige Rolle spielen und ein starkes Element für das Zusammengehörigkeitsgefühl sein.
Ein anderes Beispiel stammt aus den Jahren 1970/71: (der Solidarność-Platz) mit dem Zentrum für Dialog „Przełomy“. Auf diesem Platz sieht man, wie alles zusammenkommt. Hier stand in der Nähe das alte Stadttheater. In den 2000ern wurde dann darüber lamentiert, warum das damals abgerissen werden musste. Dann hat man aber doch die Philharmonie dort errichtet. Ein europäisch mehrfach ausgezeichnetes Gebäude, das in seiner Fassade an die Altstadt erinnert – ein postmoderner Zugang zur Stadtgeschichte, der dann in diesem Fall auch noch nicht einmal europäisch ist. Vielmehr manifestiert sich darin eine globale Entwicklung. Und dann eben dieses Zentrum „Przełomy“, das zeigt: 1945 ist sicher eine wichtige Zäsur, aber es gibt noch andere Zäsuren. Es gibt noch 1970/71, für Stettin so wichtig. An diesem Platz kann man sehr gut zeigen, wie verschiedene Schichten übereinander liegen und wie sich nach 1989 das städtische Zugehörigkeitsgefühl wandelt.
Vielen Dank, Herr Musekamp!
Das Gespräch führte Wolfgang Büttner
Fotos:
Philharmonie Stettin. © Rudolf H. Boettcher
Palast Sztynort. © Sławomir Milejski
Sedina: „Stettin in alten Fotografien“, 1941