Wie wurde Stettin zu Szczecin? Was hat der historische Bruch 1945 für die Menschen in der Stadt bedeutet? Wie steht es heute um das Regionalbewusstsein? Darüber haben die Städtepartner Stettin mit Dr. habil. Jan Musekamp gesprochen. Er ist Historiker für ostmitteleuropäische Kultur- und Migrationsgeschichte und Vizedirektor des Deutschen Historischen Instituts in Warschau. In seiner Promotion „Zwischen Stettin und Szczecin: Metamorphosen einer Stadt von 1945 bis 2005” (Wiesbaden: Harrassowitz 2010) hat Jan Musekamp diese Fragen untersucht.
Wolfgang Büttner hat für uns ein Interview mit Jan Musekamp geführt.
Wolfgang Büttner: Hallo, Herr Musekamp! Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für das Gespräch nehmen. Warum haben Sie sich denn Stettin für ihr Buch ausgesucht? Was hat sie an der Stadt besonders gereizt?
Zunächst einmal war es das Interesse für Polen. Jeder hat sein Erweckungserlebnis: bei mir war es ein Schüleraustausch Anfang der 90er Jahre. Und danach ging das dann schrittweise weiter: Ich wollte die Sprache kennenlernen, habe dann an der Viadrina studiert, und schließlich wurde daraus mein Beruf – die Beschäftigung mit der Geschichte Ostmitteleuropas und dann besonders mit Polen.
An der Viadrina habe ich viele Vorlesungen von Professor Karl Schlögel gehört. Bei ihm gab es in dieser Zeit einen Mitarbeiter, Gregor Thum, der ein Buch zu Breslau geschrieben hat. Es hat eine ähnliche Aufmachung, wie meine Untersuchung. Es nimmt auch die Zeit nach 1945 in den Blick. Gleichzeitig hat sich um Karl Schlögel eine Gruppe von jungen Doktoranden herausgebildet, die ähnliche Ideen hatten. Daraus entstand das Interesse für diese Städte, die früher deutsch waren, aber dann in Polen oder im Falle Königsbergs in der Sowjetunion lagen.
Stettin war deshalb für mich interessant, weil dazu noch keine wissenschaftliche Untersuchung veröffentlicht war. Stettin war dann auch noch eine relativ nahe gelegene Stadt. Von Berlin aus scheint es sehr nah zu sein. Aber wenn man dann den öffentlichen Verkehr benutzt, dann ist es doch weiter als eine vergleichbar entfernte deutsche Großstadt – also eine entfernte Nähe zu Berlin. Zudem fand ich sehr interessant, dass Stettin an der Grenze liegt und historisch gesehen eine sehr enge Verbindung zu Berlin hatte. Das alles waren die Punkte, die mich besonders gereizt haben.
Ich habe erst eine kleinere Recherchereise gemacht, um zu sehen, ob es genug Material gibt. Ich habe mit Leuten gesprochen, die sich auch in kleineren Aufsätzen schon mit der Stadt befasst haben, z.B. Jörg Hackmann, der jetzt auch in Stettin eine Professur hat. Er hat zur Architektur gearbeitet und gezeigt, dass es zwischen der deutschen und der polnischen Stadtplanung Kontinuitäten gibt. Aber der Umgang mit dem Kulturerbe, wie die neue Bevölkerung die Stadt wahrnimmt und wie sie sich in der Stadt ein neues Zuhause schafft, das wurde überhaupt nicht wissenschaftlich untersucht.
So richtig Antrieb hat mir meine erste richtige Recherchereise gegeben, als das Renaissance-Denkmal des italienischen Feldherrn Colleoni gerade neu aufgestellt wurde. Ich war genau an dem Tag da, als es eingeweiht wurde. Das war damals ein Kontrapunkt auf dem Platz mit dem Denkmal der Befreiung für die bei der Eroberung Stettins gefallenen sowjetischen Soldaten. Aber das Interessante war, dass ein Nachfahre Colleonis aus Italien eingeladen war und man sich bei dieser Einweihung in Renaissance-Kostüme gekleidet hat. Colleoni war also der Bezugspunkt und nicht der deutsche Leiter des Museums, der vor 1945 die Statue in Auftrag gegeben hatte. Es ging also um das Europäische. Zudem gab es eine Bürgerinitiative, die im Vorfeld die Statue aus Warschau wieder nach Stettin geholt hatte. Das fand ich sehr interessant und auch sehr sympathisch, wie bürgerschaftliches Engagement für ein Denkmal aus deutscher Zeit entsteht, das nun eine ganz neue Bewertung bekommt.
Sie haben Ihr Interesse an Grenzräumen angesprochen. 1945 war zunächst noch nicht klar geregelt, zu welchem Land Stettin gehören sollte. Wie war denn damals die Situation für die deutsche Bevölkerung, die nicht wusste, was mit ihnen und ihrer Stadt passiert?
Gregor Thum hat diese Lage das Syndrom der Vorläufigkeit genannt. Das war überall in den ehemals deutschen Gebieten bis in die 70er Jahre. Aber in Stettin war es besonders stark. Und bei Stettin kam hinzu, dass der Großteil der Stadt westlich der Hauptoder liegt. Stettin war eine Art Faustpfand für die sowjetische Verwaltung. Damit konnten sowohl Polen als auch die Deutschen im Unsicheren gelassen und gegeneinander ausgespielt werden. Das hat dazu geführt, dass sowohl die deutsche als auch die neue polnische Bevölkerung völlig verunsichert war.
Es gab Gerüchte, etwa dass Stettin Teil der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands werden sollte. Eine Internationalisierung war im Gespräch. Es gab die Idee, das wird ein tschechischer Hafen oder sowjetisches Gebiet. Im Protokoll der Potsdamer Konferenz gab es dazu keine eindeutigen Angaben. Dann gab es eine polnisch-sowjetische Gruppe, die hat dann die Grenze sozusagen vor Ort festgelegt. Das war später als an anderen Orten, auch vor dem Hintergrund, dass es hier fast die einzige Landgrenze zwischen der sowjetischen Besatzungszone und Polen war. Man konnte sich also nicht am Fluss orientieren, sondern musste westlich von Stettin weitgehend willkürlich eine Grenze ziehen.
Diese Grenzfrage ging bis 1989. Es wurden später auch noch Gebiete ausgetauscht. In Swinemünde wurden in den 50er Jahren die Grenzen noch einmal neu gezogen, damit ein Wasserwerk auf polnischer Seite war. Es gab noch lange Streit um die Territorialgewässer; dies wurde erst im Frühjahr 1989 geregelt. Die Leute mussten also mit dieser Unsicherheit leben.
Die deutsche Bevölkerung hat das aber relativ schnell verstanden, außer vielleicht die Unverbesserlichen in westdeutschen Vertriebenenverbänden. Nachdem einige dann auch wieder nach Stettin gereist waren, wusste man spätestens seit den 70er Jahren, dass es auch gar nicht erstrebenswert war, zurückzukehren. Die wirtschaftliche Lage war nicht gut, die Stadt war stark zerstört. Das mag anziehend gewesen sein, für jemanden der aus Ostpolen kam oder aus dem zerstörten Warschau – nicht jedoch für die frühere Bevölkerung. Aber in den Anfangsjahren war auf jeden Fall das Gefühl der Unsicherheit wesentlich stärker als in anderen Gebieten.
Dazu habe ich auch eine Familie interviewt. Die Mutter ist 1946 nach Stettin gekommen und diese Unsicherheit war immer im Hintergrund: Wollen wir jetzt wirklich das Haus renovieren oder nicht? In den 70er Jahren kam dann die deutsche Familie zu Besuch. Das war für viele Polen ein wichtiger Moment. Anders als auf deutscher Seite befürchtet, wurden die meisten herzlich empfangen. Und man hat dann auf dieser persönlichen Ebene seinen deutsch-polnischen Frieden gefunden.
Geblieben sind vor allem Deutsche aus deutsch-polnischen Ehen. Dann gab es die sogenannten Spezialisten, die von der sowjetischen Armee benötigt wurden, etwa um den Hafen zu betreiben oder auch als billige Arbeitskräfte. Diese Menschen durften die Stadt nicht verlassen. Bis in die 50er Jahre sind von denen noch einige geblieben oder haben manchmal polnische Ehepartner gefunden. Die Kinder gingen vielleicht in die polnische Schule. Im Jahr 1956 sind dann noch mal einige ausgewandert. Insgesamt sind ein paar Hundert geblieben, aber eine sehr geringe Zahl.
Während die Deutschen 1945 Stettin verlassen mussten, kamen gleichzeitig neue Bewohner, vor allem Polinnen und Polen, in die Stadt und mussten dort ein neues Leben beginnen. Sie brauchten Essen, Wohnung, Arbeit. Wie ist das abgelaufen? Was hat die Verwaltung gemacht? Wie haben die neuen Bewohner selbst versucht, in dieser Stadt heimisch zu werden?
Wenn ich das Buch noch mal schreiben würde, wäre ich vorsichtiger mit den Begriffen Polinnen und Polen. Mein polnischer Doktorvater aus Stettin, Jan M. Piskorski, hat mich damals schon darin bestärkt. Stettin war die heterogenste polnische Großstadt nach dem Zweiten Weltkrieg, wesentlich heterogener als zum Beispiel Breslau oder Danzig. Es ist sehr viel polnischsprachige Bevölkerung aus allen möglichen polnischen Gegenden der Vorkriegszeit gekommen. Aber auch polnisch-jüdische Bevölkerung kommt dorthin, auch ukrainisch-sprachige Bevölkerung, die dorthin deportiert wurde. Wenn man dann noch die verbliebenen Deutschen hinzunimmt, sieht man, dass die Bevölkerung sehr heterogen war.
Selbst die polnischsprachige Bevölkerung ist sehr heterogen. Auf der offiziellen Ebene sieht es ein bisschen anders aus. Das lag an dem ersten polnischen Stadtpräsidenten, der aus Posen kam. Er hat viele Leute aus Posen mit in die Stadt gebracht, etwa Spezialisten, die sich um die Stadtwerke gekümmert haben oder die Straßenbahn in Betrieb genommen haben. Die Verwaltung war anfangs stark von einer Posener-Gruppe geprägt, so dass man den Eindruck gewinnen könnten, alle wären Posener.
Wenn man dann andere fragt, sagen sie, die neuen Bewohner kamen alle aus Ostpolen. Die Ostpolen waren eigentlich eine kleine Gruppe, aber dieser Mythos war sehr stark. Die Ostpolen hatten einige Schlüsselpositionen vor allem in der Kultur. Stettin ist zwar in dieser Zeit nicht für sein Kulturleben so berühmt wie Breslau. Aber diejenigen, die in diesem Bereich in Stettin aktiv waren, kamen häufig aus Ostpolen. So wurde dieses Bild kreiert: Verwaltung aus Posen, Kultur aus den Kresy. Tatsächlich war es komplizierter und sehr heterogen.
Aber wie machen die Leute sich Stettin zu ihrer Heimat? Im Grunde haben die Leute erstmal andere Sorgen, als sich darum zu kümmern, dass Stettin eine deutsche Stadt ist. In den ersten Jahren gibt es Hunger, es gibt Zerstörung. Es geht eher darum, Brennmaterial zu finden, als irgendwelche deutsche Inschriften zu beseitigen. Die Propaganda hat gesagt, wir bauen eine polnische Stadt. Es gab regelmäßig Aktionen, um deutsche Inschriften zu überbemalen. Aber wenn jemand einen Topf Farbe hatte, dann hat er die Farbe genutzt, um seine Küche zu renovieren. Ich habe Interviews mit einigen geführt, die 1945/46 nach Stettin kamen. Und was in der Propaganda so wichtig gewesen war, spielte in den Interviews für die normale Bevölkerung überhaupt keine Rolle. Wichtig war ein Dach über dem Kopf, eine Schule für die Kinder und genug zu essen.
Die größte Gruppe der neuen Bewohner waren Menschen, die aus ausgebombten Städten kamen, aus zerstörten Städten oder aus Ostpolen, wohin sie nicht zurückkonnten. Für sie war es eine Chance, ein neues Leben zu beginnen. Da war es erstmal nebenrangig, dass Stettin eine deutsche Stadt war und dass es deutsches Kulturerbe gibt. Auch diese Idee, dass Stettin alter slawischer Boden ist, dass dort schon die pommerschen Herzöge herrschten, die mit den Piasten verwandt waren – all dies spielte sicher in der Propaganda, den offiziellen Statements und in der Politik eine Rolle. Für die ganz normale Bevölkerung jedoch nicht.
Was ich aus den Interviews gehört habe, war jedoch auch, dass die 70er Jahre wieder eine entscheidende Zeit waren. Das war jetzt eine neue Generation, die in Stettin geboren war. Für sie wird das Regionalbewusstsein zu Stettin wichtig, auch zunehmend in Abgrenzung zu Warschau. Warschau ist weit weg, nicht gut angebunden. Deshalb gibt es eine starke regionale Orientierung. Und in den 70er Jahren, als die Grenzen zur DDR geöffnet werden, ist es plötzlich auch ein Vorteil, an dieser Grenze zu wohnen. Man kann nach Berlin fahren, man kann nach Ostdeutschland fahren. Genauso wie es für die Vertriebenen dann möglich ist, nach Polen zu fahren. Diese Begegnung, diese Entspannung in den 70er Jahren auf der deutsch-polnischen Ebene war ein ganz wichtiger Punkt, dass man gesagt hat, jetzt sind wir angekommen.
Wenn sie verschiedene Phasen der Entwicklung eines Regionalbewusstseins in Stettin nach 1945 betrachten, dann sind die 70er Jahre also ein starker Einschnitt?
Ja, auf jeden Fall die 70er Jahre. Das ist auch die Zeit unter Edward Gierek, als viele Investitionen stattfanden. Stettin und überhaupt die westlichen und nördlichen Gebiete wurden von der Zentralregierung in Polen ja stiefmütterlich behandelt. Es ging in den ersten Jahren alles nach Warschau, inklusive der Museumsbestände. Colleoni ist ein ganz wichtiges Beispiel dafür.
In den 70er Jahren ändert sich dies. Es wird in Polen insgesamt wieder viel investiert. Aber da findet auch in Stettin ein spürbarer Aufschwung statt, etwa bei den Werften. Dann zeigt sich dieses Bewusstsein auch sehr stark in den Aufständen. 1970/71, das war ja dann nicht nur Danzig, sondern auch Stettin, in Hafenstädten, in denen aufgrund der Lage mehr Kontakt mit dem Ausland bestand. Die Menschen sind jetzt angekommen, sie kämpfen nun um das, was sie dort haben, auch gegen Warschau.
In den 40ern geht es zuerst darum, einen Platz zu finden, zu überleben. Dann nach dem Ende der Stalinisierung ab 1953 hat man auch schon begonnen damit, Kulturerbe zu sichern. Die Jakobikirche in Stettin zum Beispiel. Durch dieses Engagement konnten Kirchengebäude gesichert werden – gegen eine kommunistische Regierung, die daran eigentlich kein Interesse hatte. Und das Argument dafür war: wenn wir diese Kirchen oder die Altstadt nicht wieder aufbauen, dann werden die westdeutschen Vertriebenen immer sagen, ihr seid dazu nicht in der Lage. Das ist dann nur ein Argument für die Revanchisten und dafür, dass Stettin wieder zu Deutschland gehören muss. Deshalb müssen wir dieses Kulturerbe aufbauen, wir müssen es erhalten und wir müssen investieren. Das sieht man schon Mitte der 50er Jahre, aber dann ganz besonders in den 70er Jahren mit einer neuen Generation.
Ist die Jakobikirche also ein gutes Beispiel, wie von den Stettinern versucht wurde, dieses Heimatgefühl auch selbst voranzutreiben, auch mit Blick auf das deutsche Kulturerbe?
Der Denkmalpfleger und Architekt Stanislaw Latour hat mich auf das Buch in Westdeutschland „Pommerland ist abgebrannt.“ hingewiesen. Auf dem Titelblatt war die zerstörte Jakobikirche. Man konnte mit dem Buch argumentieren, die Kirche müsse wieder aufgebaut werden. Wie man das dann konkret machen konnte, war eine andere Sache. Es war ja alles Mangelware. Das Engagement zeigt aber, dass man in der Stadt Wurzeln schlug und nicht davon ausging, dass man bald wieder weg ist.
Und es ist auch einer der Widersprüche in der Volksrepublik, dass der Staat ja immer antikirchlich eingestellt war. Aber die Bevölkerung, die nach Stettin kam, war meistens aus kleineren Städten oder aus Dörfern. Sie kommen nun in die Großstadt und bringen auch ihre Gewohnheiten mit, sind oft kirchlich sehr gebunden. Diese Menschen haben vielleicht nicht so viel übrig für Theater, aber für sie ist die Gemeinschaft wichtig. Das finden sie unter Umständen mit großen Aufstiegsmöglichkeiten auch in der polnischen Arbeiterpartei, aber eben auch in der Kirche.
Fotos:
Colleoni Denkmal in Stettin.© Mateusz War
Jakobikirche, Stettin. © Rolf Krahl
Interview: Wolfgang Büttner